Mitbestimmung

Mitbestimmung bringt Motivation: Und in dem Schneegebirge

10. Unterrichtsstunde

In einer unbeschwerten Situation, in der Lehrerin und Schülerin scherzen und lachen, überlegt Frau Feierabend laut, mit welchem Lied sie weitermachen könnten und bezieht Frau Schmidt dadurch in die Überlegung mit ein. Obwohl der demenziell veränderten Frau meistens keine Titel von Liedern einfallen, hat sie nach längerer Wartezeit doch eine Idee. Frau Feierabend kennt den Titel nicht, ist aber offen für die Eingebungen ihrer Schülerin, weil intuitiv gewählte Stücke oft genau richtig für die jeweilige Situation sind. Als Frau Schmidt das Lied vorsummt, erkennt es die Lehrerin und stimmt mit ein. Frau Schmidt ist nun hoch motiviert und beginnt aus eigenem Antrieb, das Lied Und in dem Schneegebirge auf der Geige anzustimmen. Sie kann auf Augenhöhe mit ihrer Lehrerin den Unterricht mitgestalten und ist darüber sichtlich erfreut. Sie lässt Frau Feierabend den Anfangston auf der tiefen G-Saite vorgeben und spielt dann das Lied mit.

Und in dem Schneegebirge*

* Von diesem schlesischen Volkslied aus dem 17./18. Jahrhundert gibt es verschiedene Fassungen, z. B. auch im 2/4- oder 4/4-Takt. Die hier abgedruckte Version entspricht der Fassung, die Hoffmann von Fallersleben 1842 in seiner Liedsammlung Schlesische Volkslieder mit Melodien veröffentlichte.

Bei ihrem ersten Versuchen scheint sie die Sexte nach dem Dreiklang intuitiv aus dem Körpergedächtnis heraus mit dem 1. Finger auf der nächsten Saite greifen zu wollen, bricht dann aber ab. Zwar bestärkt Frau Feierabend sie noch darin, in der ersten Lage zu bleiben, doch Frau Schmidt spielt die folgenden Versuche in höherer Lage auf der G-Saite mit entsprechenden Schwierigkeiten in der Intonation. Ihre Fehler beim gemeinsamen Suchen der Melodietöne auf der Geige nimmt sie mit Humor, und im zweiten Teil des Liedes, der ohne Saitenwechsel spielbar ist, wird sie sicherer und scheint in das Spiel versunken. Nachdem sie auch den Schluss mit dem Oktavsprung erfolgreich realisiert hat, wirkt sie stolz und motiviert und will lieber gleich weiterspielen, als das ausführliche Lob von Frau Feierabend zu hören.

Sie zeigt einen starken Willen, das Lied korrekt zu spielen und erlebt tatsächlich von Strophe zu Strophe kleine Lernfortschritte, für die sie sich selbst loben kann, so wie sie auch das differenzierte Lob ihrer Lehrerin annehmen kann. Frau Feierabend ist dankbar, dass Frau Schmidt dieses schöne Lied gewählt hat, und spricht das ehrlich und auf Augenhöhe aus.

Auffällig sind in dieser Unterrichtsszene auch die Strichrichtungen: In den ersten zwei Durchgängen des Liedes beginnt Anke Feierabend jeweils mit dem Aufstrich, weil dies sich beim Violinspiel für einen Auftakt anbietet, damit die betonte Zählzeit mit dem kräftigeren Abstrich erklingt. Da aber ihre Schülerin stets mit dem Abstrich beginnt, ergibt sich im Zusammenspiel der zwei Musikerinnen ein uneinheitliches Bild. Und so gleicht die Lehrerin ab dem dritten Durchgang ihre Strichrichtung meistens an die ihrer Schülerin an, damit beide mit quasi spiegelbildlichen Bewegungen spielen. Anke Feierabend spricht nicht über diese spieltechnische Feinheit, denn das würde Frau Schmidt vielleicht verwirren und ist für das Klangergebnis wenig relevant. Das Angleichen der Strichrichtung ist ein Beispiel für die validierende Haltung, die dem Unterricht mit Demenzerkrankten zugrunde liegen sollte. Die Lehrerin erkennt die ungewöhnliche Strichrichtung der Schülerin als für sie passend an und gleicht ihren eigenen Bogenstrich daran an, so dass die Schülerin sich in der spiegelbildlichen Bewegung bestärkt fühlen kann.

Wenn man den Text des Liedes betrachtet, ist die Wahl von Frau Schmidt vielleicht nicht nur in spieltechnischer Hinsicht sinnvoll und für den Moment passend: Und in dem Schneegebirge ist kein Kinderlied, sondern ein sehr erwachsenes Lied, in dem wir Frau Schmidts derzeitige Situation erkennen können und ihre mögliche Sehnsucht, nicht alt werden zu müssen. Vielen Menschen tut es gut, in einem Lied ihre Gefühle und Wünsche ausdrücken zu können, und auch Frau Schmidt scheint in dieser Unterrichtsszene zufrieden und gelöst.

Irgendwann ist Frau Schmidt dann erschöpft nach gelungenem Spiel und wundert sich fast darüber, welche Leistung sie erbracht hat. Wieder überlässt Frau Feierabend ihrer Schülerin die Entscheidung, ob sie weiterspielen und eine neue Schwierigkeit einbauen möchte, indem sie das Lied auf der D-Saite spielen. Trotz Erschöpfung ist Frau Schmidt motiviert weiterzumachen. Als sie wieder Schwierigkeiten beim Saitenwechsel hat, verfolgt sie sehr konzentriert die Bewegungen von Frau Feierabend und kann selbstständig den Saitenwechsel nachspielen. Auch der Oktavsprung am Schluss gelingt ihr nach kurzem Suchen, und Lehrerin und Schülerin sind gleichermaßen erstaunt und stolz. Frau Schmidt reagiert auf das Lob fast etwas übermütig, mit Bewegungen und mit Worten, die beim ersten Hören unpassend wirken. Frau Feierabend geht aber auf den Scherz ein und zeigt ihr die Wahrheit in ihrer Bemerkung: Sie braucht die Fähigkeit, schöne Musik hervorzubringen, nicht unterm Stuhl zu suchen, sondern sie kommt tatsächlich aus ihr selbst hervor – denn die Geige spielt nicht von alleine!

18. Unterrichtsstunde

Auch in der 18. Stunde ist die Beziehung zwischen Frau Schmidt und Frau Feierabend so vertrauensvoll und herzlich, dass die Schülerin sich einen Scherz erlauben darf, als die Lehrerin einen Liedtitel falsch ausspricht. Ihre Antwort „Da waren wir noch nie“ kann als Wortfindungsstörung gedeutet werden, aber auch als diplomatische Freundlichkeit, die den Fehler des anderen nicht bloßstellt.

Von dieser Unterrichtseinheit gibt es Nahaufnahmen, in denen Frau Schmidts Blick und ihr Gesichtsausdruck sowie später ihre Fingerpositionen deutlich zu sehen sind.

Nach anfänglichem Suchen spielt Frau Schmidt den Saitenwechsel bei der Sexte aus dem Körpergedächtnis heraus korrekt, und auch die folgenden Melodietöne gelingen wie von selbst und werden von ihr mit Bewegungen des Oberkörpers musikalisch unterstützt. Zwar möchte sie das Lob ihrer Lehrerin nicht so recht annehmen und zeigt eher ihre Erschöpfung, aber der Erfolg motiviert zum Weitermachen.

Zusammenfassung

Am Beispiel des Liedes Und in dem Schneegebirge wird deutlich, wie wichtig es ist, dem demenziell veränderten Menschen Zeit zu lassen, eigene Ideen und Wünsche entstehen zu lassen und zu äußern. Das kann zum Beispiel in Form von Wartezeiten geschehen, in denen die Lehrkraft – tatsächlich oder inszeniert – in ihrem Gedächtnis nach weiteren Liedern sucht. So fühlt sich die erwachsene Schülerin oder der Schüler auf Augenhöhe mit der Lehrkraft und kann ihr helfen, ein sinnvolles Übungsstück zu finden. Wenn dann der Vorschlag dankbar angenommen wird, ist die Motivation groß, das gewünschte Übungsstück zu realisieren. Eventuell ist es wirklich ein für den Unterrichtsfortschritt intuitiv sinnvoll gewähltes Lied und spiegelt außerdem nicht ausgesprochene Sehnsüchte und Ängste.

Auch in der 19. und 20. Unterrichtsstunde spielen Sigrid Schmidt und Anke Feierabend das Lied Und in dem Schneegebirge. Anders als bei den meisten geistig gesunden Schülerinnen und Schülern scheint es aber hier nicht möglich zu sein, an die früheren Lernfortschritte anzuknüpfen. Stattdessen rutscht Frau Schmidt in der 19. Stunde in ein anderes Lied, so dass Frau Feierabend validieren muss.

In der 20. Stunde zeigt Frau Schmidt dann trotz Schwierigkeiten mit dem Lied große Willenskraft und Ausdauer, und es entstehen durch ihre selbstständigen Bemühungen neue musikalische Momente, wie zum Beispiel Zweistimmigkeit.