Musikbiografie

Musikbiografie und ihre Bedeutung

Musik spielt in der Begleitung demenzkranker Menschen eine wesentliche Rolle, da sie die Kranken selbst dann noch erreicht, wenn alle anderen Optionen ausgereizt sind.

Seit einer 2015 vom Max-Planck-Institut für Neuro- und Kognitionsforschung veröffentlichten Studie gilt es als wissenschaftlich nachgewiesen, dass das musikalische Langzeitgedächtnis die einzige Gehirnregion ist, die von der Alzheimerkrankheit weitgehend verschont bleibt. Somit bleiben Menschen mit Alzheimer-Demenz auch bei fortschreitender Erkrankung immer noch über die musikalischen Erinnerungen und die daran geknüpften Emotionen erreichbar. Doch auch bei anderen demenziellen Einschränkungen hat sich Musik als begleitendes Medium bewährt.

Entsprechend bildet die biografische Musik im Instrumentalunterricht mit kognitiv eingeschränkten Menschen eine wesentliche Grundlage, um über diese Musikstücke die im musikalischen Langzeitgedächtnis der Schülerinnen und Schüler schlummernden Erinnerungen wiederbeleben zu können. Selbst wenn kein Titel mehr erinnert wird – die eigentlichen musikalischen Klänge bleiben bis ins weit fortgeschrittene Demenzstadium abrufbar, sofern sie für den jeweiligen Menschen in seinem Leben bedeutsam waren.

Vorgespräche

Angehörige oder Betreuungskräfte von demenziell veränderten Menschen, die für diese Person einen Instrumentalunterricht für sinnvoll halten, sollten zunächst mit den Betroffenen und ggf. Angehörigen darüber sprechen, um sie über diese Möglichkeit zu informieren und mögliche Bedenken zu erfragen, aber auch die Chancen aufzuzeigen. 

Musikalische Vorbildung ist grundsätzlich keine notwendige Voraussetzung für den Musikunterricht, allerdings von Instrument zu Instrument unterschiedlich wichtig: Während der Unterricht auf einem Tasteninstrument, auf Trommeln oder anderen Orffinstrumenten – eventuell auch auf der Gitarre – ohne Vorkenntnisse möglich ist, sollten bei Blas- und Streichinstrumenten Grundkenntnisse vorhanden sein. Diese differenzierte Betrachtung ist notwendig, weil die Klangerzeugung z. B. auf der Geige oder Trompete sehr komplex ist. Auf dem Klavier oder auf dem Glockenspiel dagegen können auch Anfänger sehr schnell zufriedenstellende Klangergebnisse erzielen. Das ist besonders wichtig für demenzerkrankte Menschen, denn es fördert ihre Spielfreude und ihr Selbstwertgefühl.

Es ist empfehlenswert, vor der ersten Unterrichtsstunde mit dem Instrument eine Begegnung zu planen, bei der sich Instrumentallehrkraft und Schüler oder Schülerin kennenlernen. Dieses möglichst ungezwungene Gespräch dient auch dazu, die Vorlieben und die Musikbiografie des Schülers oder der Schülerin zu ergründen. Je nach Charakter, Wünschen und Bedürfnissen der Person sowie der Schwere der demenziellen Beeinträchtigung sollten Angehörige oder sonstige Bezugspersonen ebenfalls anwesend sein. Wichtig dabei ist, dass eine vertrauensvolle Atmosphäre aufgebaut wird, in der sich der oder die Demenzerkrankte wertgeschätzt und nicht unter Druck gesetzt fühlt. Gerade bei beginnender Demenz erleben Betroffene häufig Situationen, in denen ihre geistigen Fähigkeiten von Angehörigen oder Medizinern – bewusst oder unbewusst – geprüft werden. Im Vorgespräch zum möglichen Instrumentalunterricht sollten nur die Musik, das Instrument und die Beziehung des Schülers oder der Schülerin dazu im Mittelpunkt stehen. Die Liebe zur Musik und zum Instrument könnte eine erste Gemeinsamkeit von Lehrkraft und Schüler/Schülerin sein, die beide verbindet und Vertrauen bilden kann.

Musikbiografie von Sigrid Schmidt

Im Beispiel von Sigrid Schmidt erkundigte sich die Tochter zunächst bei Anke Feierabend über die Formen und Inhalte des möglichen Unterrichts. Und sie sprach natürlich mit ihrer Mutter über die Idee und das Unterrichtsangebot, das diese auch gerne ausprobieren wollte.

Fragebogen zur Musikbiografie

Der nächste Schritt bestand darin, dass Anke Feierabend der Tochter einen Fragebogen zur Musikbiografie zukommen ließ mit der Aufforderung, diesen in einer gemütlichen Atmosphäre gemeinsam mit der Mutter zu besprechen und auszufüllen.

Das hier vorgestellte Beispiel eines Fragebogens zur Musikbiografie stammt von Anke Feierabend und beinhaltet die Abschnitte „Singen“, „Musik hören“, „Tanzen“ und „Musizieren“, wobei jeweils Bezug genommen wird auf frühere Lebensphasen und auf die aktuelle Situation.

Die Schwierigkeit solcher schriftlichen Fragebögen besteht darin, dass demenziell veränderte Menschen die Fragen nach Musikstilen oder -titeln und auch nach früheren Situationen in ihrem Leben oft nicht beantworten können, weil ihnen die Erinnerungen und/oder die Worte dafür fehlen. Sie würden sich eventuell unter Druck gesetzt fühlen und nicht antworten bzw. so antworten, wie sie glauben, den Fragenden zufriedenstellen zu können.

Darum ist für die Durchführung der Befragung anhand des Fragebogens eine ungezwungene Atmosphäre elementar. Sie schafft die vertrauensvolle Grundlage für eine offene Unterhaltung, in die die Fragen wie beiläufig einfließen. Idealerweise wird die demenziell beeinträchtigte Person von einer Vertrauensperson begleitet. Sie schenkt zusätzliche Sicherheit.
Bei einer Demenz, die bereits Wortfindungsstörungen und sprachliche Verständnisschwierigkeiten mit sich bringt, sollte – wenn möglich – die Befragung zur Musikbiografie mit Hörbeispielen sinnlich erfahrbar gemacht werden, denn klingende Musik wird von den Betroffenen eher erinnert als mit Worten beschriebene.

Anke Feierabend ergänzt ihre Fragen zur Musikbiografie häufig mit Beispielen, die in dem hier präsentierten Dokument in Klammern stehen. Falls der oder die Befragte keine Antworten auf die Frage direkt gibt, könnten die Beispiele für den Fragenden eine Chance sein, die Blockade zu lösen und im Gespräch zu bleiben. Außerdem dienen sie als Anregung für Fragende, die in der Welt der Musik nicht zu Hause sind. Wer sich in dem jeweiligen Musikbereich nicht auskennt, kann auch keine Beispiele dafür nennen. Diese sind jedoch im Ergründen der Musikbiografie eines demenziell Erkrankten von großer Bedeutung.
Weder von Angehörigen noch von Betreuungspersonen in Pflegeeinrichtungen kann erwartet werden, dass sie ohne Beispiele, wie sie im Fragebogen enthalten sind, passende Musikgenres und Musiktitel parat haben.

Allerdings besteht bei solchen suggestiven Antwortmöglichkeiten auch immer das Risiko, dass die Befragten sie gerne annehmen und bestätigen, obwohl es vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht. Da das Gespräch aber nach Möglichkeit immer in Begleitung einer vertrauten Person stattfindet, kann diese die Aussagen des Kranken verifizieren. Vielleicht stimmen die Beteiligten auch spontan das genannte Lied an (per Gesang oder Vorspiel der Lehrkraft auf ihrem Instrument) und prüfen damit, ob das jeweilige Stück wirklich von Bedeutung für die potenzielle Schülerin/den potenziellen Schüler ist.

Die Tochter von Sigrid Schmidt erarbeitete in einem Gespräch mit ihrer Mutter den Fragebogen zu deren Musikbiografie und füllte ihn aus:

Erstes Kennenlernen

Der nächste Schritt bestand nun darin, dass Sigrid Schmidt ihre zukünftige Geigenlehrerin Anke Feierabend erstmals in ihrer Wohnung besuchte. Im Beisein ihrer Tochter sprachen sie gemeinsam über die Bedeutung von Musik in Sigrid Schmidts Leben, wobei der ausgefüllte Fragebogen als Gesprächsgrundlage diente.

Zwar war es zu diesem Zeitpunkt des Projektes noch nicht möglich, die Szene zu filmen, doch Ausschnitte aus dem Audio-Mitschnitt des Treffens geben Einblicke in die Atmosphäre des ersten Kennenlernens. Die Ergebnisse wurden außerdem schriftlich dokumentiert.

1. Singen

Zu hören ist zunächst vor allem die Stimme von Anke Feierabend, die in deutlichen und klaren Sätzen die Bedeutung des Singens erläutert. Da auch der zukünftige Kameramann bei diesem ersten Kennenlernen bereits anwesend ist, erklingt hin und wieder eine tiefe Männerstimme. Sigrid Schmidt spricht zu Beginn des Gesprächs nicht, aber man hört sie wohlwollend schmunzeln. Als sie von Frau Feierabend direkt gefragt wird, ob sie heute auch noch gerne singt, verneint sie dies. Ihre Tochter betont allerdings sofort, dass sie sogar sehr viel singt. Vielleicht hatte Frau Schmidt mehr an das Vorsingen oder Singen im Chor gedacht und nicht an das unbewusste “Vor-sich-hin-Singen”. Die Tochter führt aus, dass sie früher auf Spaziergängen auch gemeinsam gesungen haben, während jetzt die Mutter eher alleine singe. Nun bestätigt auch Frau Schmidt: “Ich sing’ überall!”

2. Lieblingslieder, Singen mit der Mutter

Anke Feierabend zeigt in ihrer Stimme viel Freude und Begeisterung über das Musikrepertoire ihrer zukünftigen Schülerin, und ihre herzliche und wertschätzende Haltung prägt das Gespräch. Nun beginnt Sigrid Schmidt auch von sich aus, über frühere Lebensphasen zu sprechen, vor allem über ihre Mutter, deren musikalisches Engagement ihr in dieser Situation offenbar sehr präsent ist. Als Frau Schmidt aufgrund ihrer Demenzerkrankung Schwierigkeiten hat, die richtigen Worte zu finden, geben ihr alle Beteiligten die Zeit, die sie dafür benötigt. Anke Feierabend bezieht ihre Wertschätzung auch auf Frau Schmidts Mutter und betont, dass es etwas Besonderes ist, dass in der Familie viel gesungen wurde und sie dadurch viele Lieder gelernt hat.

3. Konzertbesuche, Musik hören

Auch beim Thema Konzertbesuche war die Mutter von Sigrid Schmidt offenbar wieder die treibende Kraft in der Familie, und Frau Schmidt erzählt zunehmend emotional von deren Drängen. Bei demenziell veränderten Menschen ist manchmal zu beobachten, dass sie in einem Gespräch wiederholt auf ein Thema zurückgreifen, bei dem sie zuvor Zustimmung erhalten haben. Damit können sie sich sicher fühlen, etwas Richtiges und Wichtiges zu sagen. Auch dass sie immer selbst singt (“überall, wo ich bin”) kann Frau Schmidt zunehmend stolz wiederholen und sicher sein, dass sie dafür von ihrer zukünftigen Lehrerin Anerkennung erhält.

4. Musik benennen und summen

Anke Feierabend liest hier die Interpretennamen und Musikstile vor, die sie in ihrem Fragebogen als mögliche Antworten vorschlägt. Zu keinem gibt Frau Schmidt einen Kommentar, aber als Frau Feierabend mit begeisterter Stimme den von Frau Schmidt bzw. ihrer Tochter geschriebenen Titel Die Gedanken sind frei vorliest und alle Anwesenden zustimmend lachen, da beginnt Frau Schmidt aus eigenem Antrieb, fröhlich und in recht schnellem Tempo das Lied zu singen. Frau Feierabend lobt sie dafür und singt selbst das Lied weiter, wobei Frau Schmidt mit einstimmt. Dies ist nun die erste Situation, in der Lehrerin und Schülerin gemeinsam musizieren, und die Grundlage für ein vertrauensvolles gemeinsames Lernen, bei dem die Liebe zur Musik im Vordergrund steht. Das Gemeinschaftsgefühl ist so ansteckend, dass sogar der Kameramann mitsingt!

Sigrid Schmidt wird jetzt gesprächiger und beginnt von ihrer Zeit als Lehrerin zu erzählen, als sie mit ihren Schülern viel gesungen hat. Ihr fehlen zwar bald die Worte, aber Frau Feierabend geht nicht darauf ein, sondern bestärkt sie und unterstützt den Erzählfluss. Dann sind es wieder die Erinnerungen an ihre Eltern, die Sigrid Schmidt in den Sinn kommen, vor allem das Engagement ihrer Mutter in Sachen Musik.

5. Musik an die nächste Generation weitergeben

Anke Feierabend lobt Sigrid Schmidts Verdienst, die musikalische Tradition zu bewahren und Musik an ihre Kinder und Schüler weitergegeben zu haben. Frau Schmidt gibt sich bescheiden und relativiert das Lob, aber es ist deutlich zu spüren, wie gut es ihr tut. Gerade in ihrer jetzigen Situation, in der ihr vermutlich immer öfter ihre zunehmende Demenz bewusst wird, darf sie stolz darauf sein, das ihre Lebensleistungen wertvoll sind und erhalten bleiben. Im weiteren Verlauf der Szene beginnt sie erneut, das Lied Die Gedanken sind frei zu summen. Im Summen und Singen fühlt sie sich “zu Hause”, das wird sehr deutlich.

6. Überleitung zum Unterricht

Mit ihrer Zusammenfassung des Gesprächs macht Anke Feierabend ihrer zukünftigen Schülerin Mut, denn es hat sich herausgestellt, dass sie über sehr viel musikalisches Wissen verfügt, an das sie anknüpfen und auf dem sie aufbauen können. Die Geigenlehrerin wählt die Worte “Ihr Geigenspiel wieder zum Leben erwecken” und betont damit, dass in Frau Schmidt ganz viel Potenzial steckt, das reaktiviert werden kann. Für Demenzerkrankte, die im Alltag ständig erleben, dass Fähigkeiten unwiederbringlich verloren gehen, kann diese Erkenntnis eine große Erleichterung bedeuten. Und so klingt auch in Frau Schmidts Reaktion “Ja, das ist wirklich wahr” so etwas wie Sehnsucht mit, denn sie ahnt vielleicht schon, dass sie beim gemeinsamen Musizieren mit Anke Feierabend zufriedene und glückliche Zeiten erleben wird. Auch nach so langer Zeit und so vielen Veränderungen in ihrem Leben kann sie mit der Musik auch ein Stück ihrer Vergangenheit und ihrer Persönlichkeit wiederbeleben, erleben und festhalten.