Tonleiter im Quintraum

2. Unterrichtsstunde

Anke Feierabend beginnt ihren Unterricht mit dem gemeinsamen Spiel der Dur-Tonleiter bis zur Quinte und wieder abwärts. Lehrerin und Schülerin stehen nebeneinander, wie es im Unterricht mit gesunden Schülern üblich ist. Frau Feierabend kann bei Frau Schmidt auf früher Gelerntes aufbauen: Von Anfang an nimmt Frau Schmidt automatisch die richtige Haltung ein, setzt die Geige an den Hals und führt den Bogen korrekt. Sie kennt die Fingerpositionen für eine Dur-Tonleiter im Quintraum auf einer Saite und korrigiert die Intonation selbständig nach Gehör, bis ihr Ton mit dem von Frau Feierabend übereinstimmt. Diese jahrelang geübten Handlungen passieren bei Frau Schmidt hier unbewusst und sind ein Hinweis auf das Körpergedächtnis, das bei Menschen mit demenziellen Veränderungen immer noch funktioniert und genutzt werden kann.

Im Filmausschnitt aus der 2. Stunde ist zu sehen, dass Frau Schmidt beim Spielen stets auf ihre Geige schaut, ihre Mimik wirkt sehr konzentriert. Im Anschluss an die Übung bewertet sie ihre eigene Leistung mit einem Schmunzeln und der Aussage „…fast schon gehört…“. Darin zeigt sich, dass ihr die Situation Freude bereitet und sie positiv überrascht von ihren eigenen Fähigkeiten ist. Ihre Wortwahl lässt vermuten, dass sie sich in einer typischen Phase der Demenzerkrankung befindet, in der die Fähigkeit, passende Worte zu finden, gestört ist.

An Demenz erkrankte Menschen brauchen im Verlauf ihrer Erkrankung zunehmend Nähe und Berührung, um sich angenommen und geborgen zu fühlen, wenn die Orientierung in Raum, Zeit und Kommunikation verloren geht. Frau Feierabend lobt Frau Schmidt sehr emotional und berührt ihre Schulter. Bei gesunden erwachsenen Schülern wäre diese Berührung unpassend und die emotionale Distanz zwischen Lehrer und Schüler vermutlich größer (siehe auch “Loben und Lob annehmen“).

Als Frau Feierabend ihre Schülerin fragt, ob sie die Tonleiter auch auf der nächsthöheren Saite spielen wollen, ist sie sofort motiviert und setzt als erste den Bogen an. Frau Feierabend spielt mit, damit Frau Schmidt eine Orientierung in der Intonation findet. Sie sucht angestrengt den höchsten Ton der Tonleiter, findet ihn schließlich bei einem erneuten Ansatz und spielt die Tonleiter abwärts korrekt.

5. Unterrichtsstunde

Während Kinder und Erwachsene im Violinunterricht in der Regel stehen, um die korrekte Körperhaltung und Bogenführung zu üben, entscheidet sich Anke Feierabend bei Frau Schmidt ab der 5. Stunde dazu, den Unterricht im Sitzen fortzusetzen, um körperliche Anstrengung und Schwindelgefahr zu reduzieren. Bei anderen demenziell veränderten Schülern oder Schülerinnen kann sie den Unterricht auch im Stehen durchführen, zumal sich bei einigen sogar das Bedürfnis entwickelt, beim Spielen durch den Raum zu wandern.

Da der Unterricht ohne Noten stattfindet, können Lehrerin und Schülerin einander gegenübersitzen und Blickkontakt halten, anstatt wie im konventionellen Violinunterricht beide auf das Notenpult vor sich zu schauen. Sie sind quasi das seitenverkehrte Spiegelbild des anderen, und das bietet den Vorteil, dass Frau Schmidt ihre Haltung und ihre Bewegungen stets an die von Frau Feierabend anpassen kann und umgekehrt. Viele Demenzerkrankte scheinen Orientierung und Sicherheit zu finden, wenn sie ihre Bezugsperson nachahmen.

Spiegelbildliche Bewegungen beim Auf- und Abstrich werden beschrieben im Kapitel "Valdierende Haltung".

Frau Schmidt zeigt in dieser 5. Stunde ihre Motivation und Spielfreude mit der auffordernden Frage „Was noch?“. Auf den Vorschlag ihrer Lehrerin hin beginnt sie sofort aus eigenem Antrieb mit der Tonleiter und spielt kräftig und in etwas schnellerem Tempo als in den früheren Unterrichtsstunden. Ihr Mund wirkt angestrengt und sie blickt nicht auf die Geige, sondern vor sich hin, als würde sie sich voll auf ihr Gehör konzentrieren.

Sie wechselt nach erfolgreicher Tonleiter selbständig zur nächsthöheren E-Saite und spielt auch dort die Tonleiter korrekt, wenn auch etwas unsauber – dieses Mal mit geschlossenen Augen und entschlossenen Strichen. Frau Feierabend spielt nicht mit, um Dissonanzen mit der zweiten Violine zu vermeiden, die auf der E-Saite ein besonders unangenehmes Hörerlebnis wären.

Frau Schmidts Blick zur Lehrerin im Anschluss an ihr erfolgreiches Spiel ist voller Staunen über ihre eigenen Fähigkeiten.

Zusammenfassung

Frau Feierabend spielt in der Regel unisono mit der Schülerin und gibt den Ton kräftig vor, solange Frau Schmidt die richtige Intonation sucht. Das gemeinsame Spiel bietet der Schülerin Sicherheit und Orientierung in der Intonation.

Sobald Frau Schmidt sicher und kräftig spielt, nimmt Frau Feierabend ihre Lautstärke zurück und unterstützt nur leise. Sie hört ganz auf, wenn in hohen Lagen die Dissonanz von zwei Violinen zu stark wäre und sie merkt, dass Frau Schmidt die korrekte Intonation selbständig sucht. Die Erfahrung, ohne Lehrerin die korrekte Intonation zu finden, stärkt Frau Schmidts Selbstbewusstsein.