Vertraute Melodien

Vertraute Melodien spielen

5. Unterrichtsstunde: Hänschen klein

Methodenwechsel zu vertrauter Melodie

In der 5. Unterrichtsstunde gelingt es Frau Schmidt nicht, die Dur-Tonleiter mit dem Saitenwechsel zu spielen. Sie versucht, in höheren Lagen die Töne zu finden, die sie in ihrer Klangvorstellung hat und die sie von ihrer Lehrerin hört. Als dies zunehmend anstrengend wird und für sie unbefriedigend klingt, zeigt Frau Schmidt ihre Frustration musikalisch durch ein wütendes Tremolo.

Anke Feierabend möchte die positive und unbeschwerte Lernatmosphäre erhalten, lobt Frau Schmidt humorvoll für ihrer besondere Leistung in den hohen Lagen und wechselt dann spontan die Unterrichtsmethode: Sie schlägt vor, das bekannte Kinderlied Hänschen klein zu spielen.

Ihr Ziel ist es, dass Frau Schmidt sich nicht länger unter Druck setzt, eine kognitiv gesteuerte Leistung zu erbringen, sondern dass ihr Körpergedächtnis aktiviert wird.

Während bei demenziell veränderten Menschen die kognitiven Fähigkeiten mehr und mehr abnehmen, können sie immer noch Körperbewegungen unbewusst abrufen, die sie in ihrem Leben gelernt und in Verbindung mit Emotionen im Gedächtnis abgespeichert haben. Als Anke Feierabend Hänschen klein vorspielt, ist Frau Schmidt sofort motiviert und setzt ihre Geige an. Die Frustration der vorherigen Situation scheint vergessen, sie erkennt das Lied und will es mitspielen.

Um die richtige Position der Finger auf dem Griffbrett zu gewährleisten, lässt Frau Feierabend ihre Schülerin zunächst noch einmal die Dur-Tonleiter bis zur Quinte spielen, die keinen Saitenwechsel beinhaltet und von Frau Schmidt automatisch korrekt gespielt wird.

Tonleiter im Quintraum auf der D-Saite:

Vorübung zu Hänschen klein:

Mit diesen Tönen hat Frau Schmidt nun das komplette Tonmaterial, das sie braucht, um das Kinderlied zu spielen. Die Schülerin schaut während der Tonleiterübung mit großen Augen zu ihrer Lehrerin, und es ist nicht klar, ob sie die verbale Anweisung ihrer Lehrerin verstanden hat, oder einfach mit ihr mitspielt, als sie das Lied beginnt.

Hänschen klein

A-Teil:

B-Teil:

A-Teil:

* Textvariante: „Wünsch dir Glück“, sagt ihr Blick, „kehr nur bald zurück!“

Frau Schmidt spielt die Abfolge der Töne und den Rhythmus automatisch richtig und führt den Bogen sinnvoll, ohne dass ihre Lehrerin irgendetwas mit Worten beschreiben muss. Zwischenzeitlich, zum Beispiel im B-Teil des Liedes, schließt Frau Schmidt sogar die Augen, anstatt auf ihre Finger auf dem Griffbrett zu schauen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sie allein ihrem Körper vertraut und sich von der Klangvorstellung und dem Automatismus der dazu gehörigen Bewegungen leiten lassen kann. Dabei ist nicht ersichtlich, ob sie das Lied in früheren Zeiten tatsächlich auf einer Saite genauso konkret geübt hat. Vielleicht funktioniert das reaktivierte Körpergedächtnis sogar so abstrakt, dass allein die antizipierte Klangvorstellung einer Tonabfolge unbewusst die Bewegungen, die für das jeweils nächste Intervall notwendig sind, hervorruft.

Am Schluss bekommt Frau Schmidt ein aufrichtiges Lob von ihrer Lehrerin und Applaus von Zuschauern im nicht sichtbaren Teil des Raumes. Sie setzt die Geige ab, zeigt mit ihrer Erschöpfung, welch große Leistung das für sie war, und lacht dabei erleichtert und zufrieden. Auf das ausführliche Lob ihrer Lehrerin reagiert sie hier noch sehr zurückhaltend und kann es nicht so recht akzeptieren. In späteren Stunden lernt sie, ihre eigenen Leistungen anzuerkennen und Lob zu akzeptieren (siehe “Loben und Lob annehmen“).

Zusammenfassung

In der frustrierenden und aussichtslosen Lernsituation wählt Frau Feierabend einen abrupten Methodenwechsel. Sie will bei ihrer Schülerin den unbewussten Automatismus einer früher gelernten Melodie abrufen, statt eine Tonleiterübung kognitiv zu steuern.

Im Unterricht mit Demenzerkrankten ist es oft nicht sinnvoll, Instrumentalschulen oder sonstige Noten zu verwenden, da mit der symbolischen Repräsentation der Musik eine weitere Kommunikationsebene benutzt wird, die kognitiv entschlüsselt und verarbeitet werden muss. Dies ist bei demenziell veränderten Menschen zunehmend nicht mehr möglich. Stattdessen vertraut Anke Feierabend auf den Automatismus von früher gelernten Bewegungen im Zusammenhang mit wohlbekannten Liedern. Sie arbeitet darauf hin, dass auch Frau Schmidt sich mehr und mehr auf ihr Körpergedächtnis verlässt. Dies klappt dann am besten, wenn Frau Schmidt nicht auf ihre Finger schaut.

Die Dur-Tonleiter gemeinsam bis zur Quinte zu spielen, ist eine notwendige Vorübung und Hinleitung zum Lied, um die korrekte Position der Finger zu finden und zu greifen. Auch diese Aufgabe löst Frau Schmidt aufgrund früherer Erfahrungen und der damit verbundenen Klangvorstellung automatisch richtig.